Jenseits der Disruption – Innovationsstrategien neu denken in einer Welt nach der Krise
- Yetvart Artinyan
- 8. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Disruption war einmal klar.
Ein neuer Player tritt auf den Plan, senkt die Eintrittsbarrieren – demokratisiert den Zugang. Billiger. Einfacher. „Gut genug“. Dann besser. Dann übernimmt er den Markt.
Es ist das Muster, das Clayton Christensen brillant beschrieben hat – und das seither von vielen wiederholt wurde: Disruption beginnt klein, dort wo etablierte Anbieter nicht hinsehen, und definiert schliesslich das ganze Spiel neu.
Dieses Playbook hat über Jahrzehnte geprägt, wie wir Geschäftsmodelle bauen, verteidigen und messen.
Aber etwas hat sich verändert.
Im Jahr 2025 – und erst recht bis 2035 – trifft Disruption nicht nur Produktkategorien. Sie trifft Denkmodelle, Institutionen, Identitäten.
Märkte verschieben sich nicht mehr einfach – sie zerbrechen. Kund:innen wechseln nicht nur Anbieter – sie definieren Wert neu. Und Innovation geht nicht mehr um Neuheit. Sie geht um Relevanz unter Druck.
Dieser Essay untersucht die neuen Muster, die ich beobachte – nicht als Ersatz früherer Frameworks, sondern als nächste Schicht für alle, die Zukunft gestalten.
Von Produktvorteil zu Paradigmenwechsel
In früheren Disruptionstheorien ging es oft darum, „von unten“ in einen Markt einzutreten: un(ter)versorgte Bedürfnisse, geringere Leistung, dafür bessere Zugänglichkeit.
Aber heutige Disruptoren konkurrieren nicht über Preis oder Performance. Sie konkurrieren über Paradigma und Identität.
Sie stellen die Grundannahme infrage:
Warum brauche ich einen Job?
Warum brauche ich ein Büro?
Warum brauche ich ein Studium, einen Chef, eine Bank, einen Plan, …?
Neue Disruptoren erobern nicht nur Marktanteile. Sie hinterfragen, warum es diesen Markt überhaupt gibt.
Und wenn diese Verschiebung einmal in deinem Dashboard auftaucht, bist du schon zu spät dran.
Relevanz ist das neue Differenzierungsmerkmal
Der echte Wettbewerbsvorteil ist nicht mehr Produktinnovation. Es ist Bedeutungsklarheit – und systemische Anschlussfähigkeit.
Wenn Menschen nicht erkennen, wie deine Lösung ihnen hilft, in einer sich verändernden Welt wirklich voranzukommen, wird dir kein Growth Hack helfen.
Die zentralen Fragen verschieben sich von:
„Was wollen die Leute?“ → „Was fühlt sich jetzt wie Fortschritt an?“
„In welchem Markt sind wir?“ → „Mit welcher Zukunft sind wir verbunden?“
Die Muster, die ich sehe, weisen auf eine neue Klasse strategischer Herausforderungen – und auf Fähigkeiten, die wir aufbauen müssen.
1. Disruption klopft nicht an. Sie recodiert.
Disruption zeigt sich heute nicht mehr als klassischer neuer Anbieter – sondern als kulturelle oder verhaltensbezogene Verschiebung:
Von Besitz zu Zugang
Von Konkurrenz zu Koordination
Von Kontrolle zu Autonomie
Von mehr zu bedeutsam
Das Geschäftsmodell scheitert nicht an Leistungsgrenzen. Es scheitert, weil seine Logik keine Resonanz mehr erzeugt.
2. Jobs to Be Done braucht eine breitere Linse
Das ursprüngliche JTBD-Konzept half uns, von Produktfeatures auf echten Kundennutzen umzudenken.
Aber ab 2025 müssen wir fragen:
Wessen Fortschritt ermöglichen wir?
Zu welchem systemischen Preis?
Und wie lange ist das tragfähig?
Es reicht nicht mehr, individuelle Bedürfnisse zu verstehen.Wir müssen das ganze Umfeld sehen – ökologisch, sozial, emotional.
Wenn deine Lösung einem Akteur hilft, aber das System schwächt, von dem dieser abhängig ist, dann löst du kein Problem. Du verlagerst es.
3. Wachstum ist kein Ziel. Es ist ein Signal.
Wir wurden darauf trainiert, auf Wachstum zu optimieren. Aber Wachstum ist zu mehrdeutig geworden, um alleine sinnvoll zu sein.
Manches Wachstum ist Lärm. Manches ist Ausbeutung. Manches ist einfach schnellere Erosion.
Die wichtigeren Fragen lauten heute:
Was potenzieren wir eigentlich?
Welche Spannungen blenden wir aus?
Passt unser Wachstum zum echten Fortschritt der Menschen, die wir unterstützen wollen?
4. So erkennst du den frühen Relevanzverlust
Wenn dein Umsatz sinkt, ist deine Relevanz längst am Erodieren. Vier frühe Anzeichen:
Sprachmismatch – Kund:innen sprechen anders über ihre Probleme als dein Marketing.
Emotionale Entkopplung – Das Produkt wird noch genutzt, aber nicht mehr gefühlt.
Stille Talentabwanderung – Gute Leute gehen nicht wegen Geld, sondern weil sie die Richtung nicht mehr glauben.
Mission Drift – Die Taten deiner Organisation widersprechen ihren erklärten Werten.
Relevanzverlust beginnt leise.Aber wenn du ihn ignorierst, wird er existenziell.
5. Warum systemische Innovatoren Produktdenker ablösen werden
Die nächste Generation von Innovator:innen wird sich nicht durch Ideen definieren, sondern durch ihre Fähigkeit, Grenzen zu überwinden.
Sie werden:
langfristige Spannungen erkennen
Ambiguität aushalten
Nutzerbedürfnisse mit gesellschaftlichem Wandel verknüpfen
institutionelle Standards hinterfragen
Anreize neu gestalten – nicht nur Interfaces
Diese Arbeit ist langsamer, tiefer und schwerer messbar.Aber genau sie hält uns relevant, wenn die Spielregeln verschwimmen.
6. Strategische Relevanz: Reflexionsfragen für 2025 und darüber hinaus
Nutze diese Fragen im Team, mit dem Vorstand oder unter Gründer:innen:
Was scheint heute noch wahr, wird aber die nächsten 5 Jahre nicht überleben?
Wessen Fortschritt ermöglichen wir – und zu welchem Preis?
Welches Problem können wir nicht mehr am besten lösen?
Wozu tragen wir unbeabsichtigt als Systemversagen bei?
Wie würde ein “sich weiterentwickeln im Dienst der Relevanz” konkret aussehen?
Zum Schluss jenseits der Disruption: Relevanz ist Disziplin, nicht Zufall
Es geht nicht darum, alles Bisherige über Bord zu werfen.
Es geht darum, auf dem Nützlichen aufzubauen – und ehrlich zu erkennen, was nicht mehr trägt.
Wir brauchen kein weiteres Innovationstheater, das Ressourcen von A nach B verschiebt, und wenn’s nichts bringt, wieder zurück.
Wir brauchen Innovation jenseits der Disruption mit Konsequenz – denn bald gibt es kein A mehr. Nur noch C, D, E, …
Das heisst: früher spüren, langsamer reagieren, und Systeme bauen, die sich weiterentwickeln – nicht nur skalieren.
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